Thomas Fischer über Alice Weidel: Strafrecht, Inszenierung und mediale Formate
13. Dezember 2025 - Anton Voglmaier in Allgemein | Keine Kommentare »
In einer aktuellen SPIEGEL-Kolumne widmet sich der frühere Bundesrichter Thomas Fischer einem längeren TV-Interview von Alice Weidel bei Welt TV. Ausgangspunkt ist nicht Empörung, sondern eine grundsätzliche Reflexion über ein Phänomen, das politische Öffentlichkeit seit Jahren prägt: die in medialen Formaten allgegenwärtige Psychologisierung politischer Akteure.
Fischer macht zu Beginn klar, dass psychologische Ferndiagnosen methodisch fragwürdig sind. Zugleich zeigt er, warum sie in demokratischen Mediengesellschaften faktisch eine große Rolle spielen: Politische Programme stehen im Wettbewerb und werden nicht zuletzt über Personen, Gesten und öffentliche Selbstdarstellung vermittelt. Ob daraus abgeleitete Psychogramme zutreffen, ist oft zweitrangig – entscheidend ist ihre Wirkung.
Vor diesem Hintergrund analysiert Fischer den Auftritt Weidels. Er beschreibt detailliert deren Inszenierung: demonstrative Überlegenheit, aggressive Untertöne, höhnisches Lachen, apokalyptische Rhetorik bei weitgehender Abwesenheit konkreter inhaltlicher Antworten. Das Interview dient weniger der Klärung politischer Konzepte als der öffentlichen Selbstpositionierung. Dabei wird deutlich, dass mediale Formate diese Form der Inszenierung kaum begrenzen.
Besonders brisant wird die Kolumne dort, wo Weidel im Interview wiederholt mit NS-Parolen konfrontiert wird und ihnen mit Schulterzucken, Relativierung oder demonstrativer Gleichgültigkeit begegnet. Fischer prüft an dieser Stelle nüchtern, ob die konkrete Wiederholung der Parole „Alles für Deutschland“ im Interview den Tatbestand des § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) erfüllen könnte. Er stellt keine strafrechtliche Feststellung, entwickelt aber eine klar begründete persönliche Einschätzung zur möglichen Strafbarkeit bei einem Sich-Zueigen-Machen der Parole.
Über diese strafrechtliche Einzelfrage hinaus formuliert Fischer eine weitergehende These: Programm, Auftreten und psychische Disposition greifen ineinander. Die demonstrative Gleichgültigkeit gegenüber historisch eindeutig belasteten Codes erscheint nicht als bloßer Ausrutscher, sondern als Teil einer politischen Strategie, die Provokation und Normalisierung bewusst in Kauf nimmt. In diesem Sinn ist Weidel an der Spitze der AfD kein Zufall und kein Betriebsunfall.
Die Kolumne ist unbequem, analytisch scharf und gerade deshalb lesenswert. Sie lädt dazu ein, über die Rolle medialer Formate, die Grenzen politischer Inszenierung und die Funktion des Strafrechts in der demokratischen Öffentlichkeit neu nachzudenken.
Quelle: https://www.spiegel.de/kultur/alice-weidel-tv-interview-offenbart-programm-und-psyche-der-afd-chefin-kolumne-a-3add9d81-ba9f-472c-b813-329b619253a8
